Als ich morgens aus dem Bad komme, meine Haare sind noch nass von der Dusche, und den Nicht-Stören-Modus meines iPhone deaktiviere, sehe ich, dass ich einen verpassten Anruf von meiner Frauenärztin habe. Ich war vor zwei Wochen zur jährlichen Kontrolluntersuchung bei ihr. Sofort rufe ich sie zurück. Normalerweise meldet sie sich nach Routineuntersuchungen nie.
Es ist besetzt. Als ich es ein paar Minuten später nochmal versuche, komme ich immer noch nicht durch. Ich bin beunruhigt. Gehe in die Küche, mache mir einen Kaffee, und setze mich raus auf den Balkon. Es ist schon warm. Die Sonne scheint auf die gepflasterte Straße, auf die Altbauten. In der Ferne fährt eine Straßenbahn vorbei. Ich nehme einen tiefen Atemzug, es riecht nach dem heißen Kaffee und den Kräutern, die ich auf dem Balkon angepflanzt habe.
Um mich abzulenken, gehe ich nochmal rein und hole mir mein Buch vom Nachttisch. Als meine Mutter mich gebeten hat, mein altes Kinderzimmer aufzuräumen, habe ich meine alten Twilight-Bücher wieder gefunden. Als ich noch zur Schule ging, habe ich sie geliebt. Ich konnte es kaum erwarten, zu erfahren, was mit Bella und Edward passiert. Als der letzte Teil rauskam, habe ich ihn an einem Wochenende gelesen. Ich habe kaum geschlafen. Ich streiche über den Buchrücken, den dunkelgrünen Umschlag. Geschwungene Schrift, das Gesicht einer zarten, blassen Frau. Wenn man von dem getötet wird, den man liebt, hat man keine Wahl. Wie kann man fliehen, wie kämpfen, wenn man damit dem Geliebten wehtun würde? Wenn das eigene Leben das Einzige ist, was man dem Geliebten geben kann, wie kann man es ihm dann verweigern? Wenn es jemand ist, den man wirklich liebt?
Ich sitze in der Morgensonne und lese. Trinke meinen Kaffee. Als ich irgendwann keine Lust mehr habe, hole ich mein iPhone und versuche es nochmal bei meiner Frauenärztin. Auch diesmal geht nur der Anrufbeantworter an. Ich hinterlasse eine Nachricht.
Dann öffne ich Instagram. Mein Herz schlägt ein bisschen schneller, als ich die App öffne. Meine Hände zittern. Immer noch, nach drei Monaten. Nach der Nachricht, die ich bekommen habe. Da sie von jemandem kam, dem ich nicht folge, musste ich sie erst freigeben. Erst dachte ich, es wäre eines dieser Scam-Sex-Profile, mit den Fotos von jungen Frauen, die Links zu irgendwelchen Porno Sites teilen. Sowas blockiere ich direkt. Aber dann sah ich, dass die Nachricht mit „Hey Belle“ begann. Das Profilbild der Absenderin sah ziemlich normal aus. Braune Locken, breites Grinsen, kurzes Batik Top. Ein Flaschenbier in der Hand. Ihr Foto sah aus, als wäre es auf einem Festival aufgenommen worden. Also öffnete ich die DM. Und fiel.
Sie schrieb, dass sie anhand eines Fotos auf meinem Profil vermutet hatte, dass ich mit Ben in einer Beziehung war. Um sicherzugehen, bevor sie mir eine solche Nachricht schreibe, habe sie dann eine gemeinsame Bekannte gefragt, die sie über unsere gemeinsamen Follower entdeckt habe. Die habe ihr irritiert bestätigt, dass Ben und ich seit zwei Jahren zusammen waren. Sogar zusammen lebten. Ich will mich nicht einmischen. Ich weiß ja auch gar nicht, was für eine Absprache ihr habt, was so was angeht, schrieb die Frau, aber ich wollte dir sagen, dass ich Ben vor zwei Wochen gedatet habe. Wir haben uns über Tinder kennengelernt. Und irgendwie, weil er nie eine Freundin erwähnt hat, dachte ich, Du solltest es vielleicht wissen.
Jetzt habe ich jedes Mal ein ungutes Gefühl, wenn ich die App öffne. Habe Angst, dass noch mehr solcher Nachrichten kommen.
Aber Ben hat mir versichert, dass es nur ein einziges Treffen war. Er habe Tinder mal ausprobieren wollen. Alle seine Freunde nutzten die App, und sie hätten sich einen Spaß daraus gemacht, zu schauen, wer an einem Abend mehr Matches bekommen könnte. Wie ein Wettkampf. Dann habe er mit der einen angefangen zu schreiben. Es sei aufregend gewesen und eine Ablenkung von der Arbeit. Aber es habe nichts bedeutet.
Er hat mir versichert, er wolle nur mit mir zusammen sein, dass ich die Frau sei, mit der er sein Leben verbringen wolle. Es sei dumm gewesen, ein kopfloser Moment, getragen von Alkhohol und Neugierde.
Ich habe ihm verziehen.
Aber meine Bedingung ist, dass er sich mehr mit sich selbst auseinandersetzt. Nicht immer so viel arbeitet. Er hat kaum Zeit für etwas anderes. Für sich. Für uns. Selbst am Wochenende muss er für Kunden immer erreichbar sein. Fast kann ich verstehen, dass man da mal ausbrechen muss. Raus aus dem Alltag. Aber das ist keine Lösung. Also geht er seit ein paar Wochen zur Therapie. Als Selbstzahler fand er schnell einen Platz. Bei einer renommierten Verhaltenstherapeutin mit Praxis in Sachsenhausen.
Und heute soll ich dorthin mitkommen. Eine gemeinsame Therapiesitzung. Es war ein Vorschlag der Therapeutin. Kurz hatte ich ein bisschen Angst, aber jetzt freue ich mich sogar darauf. Das zeigt, wie ernst es Ben ist. Wie sehr er an unserer Beziehung arbeiten möchte. Dass er für uns kämpft. Ich habe mir dafür heute sogar freigenommen.
Ich gehe ins Bad und föhne meine Haare, glätte sie. Schminke mich dezent. Schlüpfe in ein langes, beiges Kleid, das er mir geschenkt hat.
Dann packe ich meine Tasche und nehme die U-Bahn zur alten Oper. Dort, vor dem Deutschen-Bank Tower, werden wir uns treffen. Ben schreibt, dass er noch ein paar Minuten länger braucht, sein Teamleiter möchte noch mit ihm sprechen. Dieser John nervt. Ich hole uns etwas zu trinken im Café Sunny Side Up, einen Iced Matcha Latte für mich, einen Cappuccino mit Hafermilch für ihn. Stehe da, mit den Bechern in der Hand, und warte. Endlich verlässt er den Deutschen Bank Tower. Er trägt eine dunkelblaue Anzugshose, ein weißes Hemd. Er sieht so gut aus. Er ist perfekt gebaut, nicht zu breit, nicht zu schlaksig. Er hat volles Haar, ohne dass er dafür in die Türkei fliegen musste.
Er küsst mich zur Begrüßung auf den Mund. Wir nehmen die U-Bahn nach Sachsenhausen. Ich lehne mich an ihn. Ich liebe seinen Geruch. Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen. Als ich sie wieder öffne, betrachte ich uns im Fenster der U-Bahn. Ich liebe mein Spiegelbild besonders, wenn er neben mir steht. Es ist, als hätte jemand einen diesen Instagram-Filter über mich gelegt, der die Züge weichzeichnet, die Lippen voller erscheinen lässt, die Augen größer. Ich fühle mich schön.
Die Praxis ist in einem sanierten Altbau. Sie ist geschmackvoll eingerichtet, hohe, mit Stuck verzierte Decken, Fischgrätenparkett. Das Wartezimmer ist klein. Wir sind die einzigen dort. Während ich in den Zeitschriften blättere, beantwortet Ben ein paar Mails. Er kommt wirklich nie zur Ruhe. Ich lege eine Hand auf sein Knie.
Nach einem kurzen Moment ruft uns Frau Hooks schon auf. Sie lächelt mich an. Ich habe das Gefühl, dass wir gut miteinander sprechen können. Sie bittet uns herein. Wir nehmen auf zwei Stühlen aus dunklen, schwerem Eichenholz Platz, sie setzt sich uns gegenüber, schaut uns mit offenem Blick an.
Sie erklärt mir, was Ziel der Therapie ist. Wie sie vorgeht. Sie sieht die Ursache von Bens Schwierigkeiten in seiner Kindheit. Als mittleres Kind von drei Kindern habe er nicht die Aufmerksamkeit und emotionale Zuwendung von seinen Eltern bekommen, die er gebraucht hätte. Er habe versucht, durch gute sportliche Leistungen, durch gute Schulnoten, die Aufmerksamkeit seiner Eltern auf sich zu ziehen. Da es bei dem Kontakt primär um Erfolge, und selten um Bens Gefühle ging, oder um das, was ihn beim Heranwachsen beschäftigt habe, sei er in keinem guten Kontakt zu sich selbst. Ziel der Therapie sei, sein Selbstwertgefühl aufzubauen, und Bens Fähigkeit, sich mit seinen Emotionen auseinanderzusetzen, zu stärken.
Das macht so viel Sinn für mich.
Frau Hooks möchte aber auch wissen, wie es mir geht. Was die Nachricht von Tinder in mir ausgelöst habe. Als ich erzähle, muss ich sofort weinen. Aber auch Ben tut mir leid, der etwas kleinlaut neben mir sitzt, kaum etwas sagt. Es muss nicht schön sein, dass alles nochmal zu hören. Ich betone, wie wichtig er mir ist, und wie froh ich bin, ihn zu haben. Dass ich glaube, dass wir zusammengehören.
Als Ben von Frau Hooks auf seine Kindheit angesprochen wird, erzählt er von dem Druck, den er verspürt habe. Immer zu funktionieren, um den Eltern auch ja nicht noch mehr Arbeit zu machen, die mit den drei Kindern und ihren Vollzeitjobs schon genug zu tun hatten. Er tut mir so leid.
Dann fragt Frau Hooks mich, was Ben tun kann, um mein Vertrauen wiederzugewinnen. Ich muss nicht lang überlegen.
„Ich möchte, dass er ab jetzt ehrlich zu mir ist“, sage ich, und mit einem Blick auf ihn ergänze ich, „immer.“
Frau Hooks nickt. Ben sagt, natürlich, er wird ab jetzt immer ehrlich zu mir sein.
Frau Hooks bittet uns, aufzustehen, Ben soll mir die Hand geben, mir in die Augen schauen. Er verspricht es mir nochmal. „Ich bin ab jetzt ehrlich zu Dir, Belle.“
Ich fühle mich so leicht. Als wir die Praxis verlassen, nehme ich seine Hand. Wir laufen zurück durch die gepflasterte Straße, zurück zur U-Bahn. Wir verabreden uns für heute Abend, ich hole ihn von der Arbeit ab, und wir gehen zusammen essen. Ich bin traurig, als er an der Hauptwache aussteigt, und fahre alleine weiter nachhause.
Als ich die Treppen der U-Bahn an der Bockenheimer Warte hochlaufe, klingelt mein Handy. Es ist meine Frauenärztin. „Belle Lindendorf“, sage ich, „Hallo?“
„Guten Mitag Frau Lindendorf, hier ist Dr. Heller. Sie waren vor zwei Wochen zum Pap-Abstrich bei mir.“
„Ja“, sage ich.
„Ihr Abstrich war auffällig. Sie haben einen Pap IIID2. Ich würde Sie daher bitten, in drei Monaten wieder zukommen. Dann machen wir zur Kontrolle einen erneuten Abstrich.“
Ich bin verwirrt. „Was heißt Pap II… Was ist das genau?“
„Eine Zellveränderung in ihrem Gebärmutterhals. Dies ist jetzt erst Mal noch kein Anlass zur Beunruhigung. Viele Frauen haben das und es geht von alleine weg. Daher werden wir das erst Mal beobachten.“
Ich schlucke. „Vielen Dank“, sage ich. Vereinbare einen Termin für in drei Monaten. Meine Frauenärztin ist wie immer kurz angebunden. Nach wenigen Minuten legen wir auf.
Sofort rufe ich meine beste Freundin Jana an, die Medizin studiert hat, und jetzt in Niederrad in der Uniklinik arbeitet. Sie geht nicht ran. Ich schreibe ihr auf iMessage und frage sie, was das bedeutet, ob ich nochmal zu einer anderen Ärztin gehen soll, um eine zweite Meinung einzuholen, und woher diese Zellveränderung kommt. Ob ich selbst irgendwas tun kann.
Sie antwortet mir erst später.
Meistens kommt das durch eine HPV-Infektion, schreibt sie. Das wird häufig durch Sex übertragen. Kann aber auch von der Pille kommen. Oder einfach durch Stress. Ich würde mir jetzt erst Mal keine Gedanken machen. Kontrolle in drei Monaten klingt gut.
Erst bin ich beruhigt. Doch dann schreibt Jana:
Hast Du Dich, nachdem du das mit Ben und Tinder rausgefunden hat, mal auf Geschlechtskrankheiten testen lassen?