Kassandra ist eine tragische Heldin aus der antiken Mythologie. Ein Teil ihrer Geschichte geht so: Der Gott Apollon war von Kassandra und ihrer Schönheit verzaubert. Deswegen schenkte er ihr die Gabe der Weissagung. Sie wies jedoch alle Verführungsversuche des Gottes zurück. Wütend darüber, dass Kassandra ihn abwies, ihm nicht gab, was er wollte, verfluchte Apollon Kassandra. Niemand würde ihren Weissagungen je Glauben schenken. So sah Kassandra immer das Unheil voraus, wurde aber niemals gehört.
Warnungen, die ignoriert werden, die niemand hören will, sich später aber als wahr bzw. berechtigt herausstellen, werden daher auch als Kassandrarufe bezeichnet.
Ich war auf einem JGA auf Ibiza, als mich das Gefühl beschlich, dass Ben mich wieder betrog.
Lucys Trauzeugin, Helena, hatte einen Bungalow an einer Hotelanlage direkt am Meer gemietet. Lange weiße Vorhänge, die im leichten Wind flatterten, es roch angenehm nach Holz. Wir frühstückten auf der Terrasse mit Blick aufs Meer, es gab bereits Cocktails in Martinigläsern. Ich saß da, mit einem Croissant und Mimosa, einer Schale mit Kokosnussjoghurt und frischen Beeren vor mir. Starrte auf mein Handy.
Die Nachricht, die ich Ben gestern Abend geschickt hatte, in der ich fragte, ob wir noch kurz telefonieren wollten, war bis heute morgen nicht zugestellt worden. WhatsApp zeigte für die Nachricht nur ein Haken an.
Ich hatte kaum geschlafen. Den ganzen Abend über, die ganze Nacht, hatte ich auf seine Antwort gewartet. Als ich irgendwann mein iPhone checkte, sah ich, dass meine Nachricht nicht mal durchgegangen war.
Bestimmt ist sein Akku leer, dachte ich. Bevor wir geflogen waren, hatten wir noch kurz telefoniert. Er war noch im Büro gewesen und arbeitete. Wollte sich später noch mit Paul treffen. Ich stellte mir vor, dass sie in irgendeiner Bar versackt waren.
Hoffentlich war sein Handy nicht geklaut worden, dachte ich.
Gegen fünf Uhr morgens öffnete ich Instagram und ging auf Pauls Profil. Ben selbst postete nie etwas. Vor 6 Stunden hatte Paul ein Foto aus dem Chinaski, einer Bar in der Nähe des Opernplatzes, in seiner Story gepostet. Ein Foto von zwei Gin Tonic.
Danach schlief ich kurz ein.
Aber das Licht der aufgehenden Sonne mahnte mich. Es war so hell, die Schatten der Nacht waren verschwunden, ich sah alles klar und deutlich. Es war 10:30 Uhr und Ben hatte sich nicht gemeldet. Die Nachricht war immer noch nicht zugestellt. Meine Anrufe gingen nicht durch. Auch nicht nach dem dritten Versuch.
Was tat er?
Ich stellte mir vor, wie er neben einer anderen Frau aufwachte. In ihrem Bett. Sie war wunderschön. Er lächelte sie an.
„Belle, hilfst Du uns?“, fragte Helena. Die anderen waren dabei, den Frühstückstisch abzuräumen. Ich hatte es nicht gemerkt. Mit schlechtem Gewissen sprang ich auf, entschuldigte mich, nahm meinen Teller. Ich hatte nicht mal die Hälfte des Croissants gegessen. Den Joghurt nicht angerührt.
Wir fuhren mit zwei Autos zu einem Beachclub. Helena hatte vorbereitet, dass wir dort selbst Schmuck basteln würden. „Jeder bastelt einen Ring für sich und einen für Lucy“, sagte sie, „damit sie uns als verheiratete Frau nicht vergisst!“
Wir bestellen noch mehr Drinks. Es lief laute Musik, so laut, als wären wir in einem Club und nicht in einer Bar. Die Kellerinnen trugen schwarze Bikinis, darüber lange, durchsichtige Kimonos, den Gürtel eng um die Taille geschnürt. Stumm begann ich, Plastikperlen auf ein Band zu ziehen.
Mein Handy vibrierte. Es war Ben.
„Hey Belle, wie geht’s Dir?“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich wusste auch nicht, was ich fühlen sollte. Erleichterung? Wut?
„Okay“, sagte ich, „und Dir?“
„Sorry, Belle, dass ich gestern nicht mehr angerufen habe. Paul und ich waren noch unterwegs. Ich hab bis eben geschlafen.“
Ich versuchte, zu lachen. Es klang falsch. „Bist du verkatert?“
„Mega“, sagte Ben, „ich leg mich gleich nochmal hin.“ Und dann: „Ich vermisse dich.“
Mein Herz, dass den ganzen Morgen so schwer in meiner Brust gelegen hatte, machte einen Satz. „Ich dich auch“, sagte ich. Ich warf einen Blick rüber zu den Mädels. Lucy trug eine weiße Sonnenbrille, die Gläser in Herzform.
„Wie ist es bei euch?“, fragte Ben.
„Gut“, sagte ich. Ich hasste es hier. Ich fühlte mich allein.
„Wir sind gerade am Strand“, sagte ich. Ich fühlte mich unwohl zwischen all den Frauen, die alle verheiratet, oder zumindest verlobt waren, und nun Lucy in ihrem Club begrüßten. Die ihren Ring wie ein Zeichen ihres eigenen Wertes am Finger trugen. Schaut her: Ich bin es wert, geheiratet zu werden. Ein einflussreicher, erfolgreicher Mann hat mich zu seiner Frau gemacht.
„Schön“, sagte Ben. „Genieß es.“
„Können wir später nochmal telefonieren?“, fragte ich.
„Klar“, sagte Ben, „ruf einfach an.“
Wir legten auf. Ich ging zurück zu den anderen.
„Ich hab dir einen Verlobungsring gemacht“, schrie Lucy über die Musik hinweg in meine Richtung, „wenn dein Freund dir schon keinen Antrag macht, dann wenigstens wir!“
„Girl Power!“, rief Helena und hob ihr Glas. Lachend stießen wir an. Klirrende Gläser, starres Lächeln.
Ich wusste, ich sollte nach Bens Anruf erleichtert sein, aber es blieb ein flaues Gefühl in meinem Magen. Ich fühlte mich bedrückt. Unwohl. Lag es an der Hitze? An den Drinks, die wir seit unserem Treffen am Flughafen tranken?
Ich ging mit meinem Mimosa ans Meer, tauchte meine Zehen ins Wasser.
Es fühlte sich nicht richtig an.
Ich holte wieder mein iPhone raus. Rief meine Mutter an.
„Mama?“, sagte ich, als sie den Anruf annahm.
„Belle, Schatz“, sagte meine Mutter. Sie klang ein wenig gestresst.
„Bist du unterwegs?“, fragte ich. Ich konnte Stimmen im Hintergrund hören.
„Dein Vater und ich sind mit Freunden auf dem Marktfrühstück“, sagte meine Mutter, „ist irgendwas, Belle?“
Ich schluckte.
„Ich glaube, Ben betrügt mich immer noch“, sagte ich.
Kurz war Stille. Ich hörte es rauschen. Meine Mutter entfernte sich von der Gruppe.
„Wie kommst du darauf?“, fragte sie dann.
„Ich habe so ein Gefühl“, sagte ich. „Ich kann es nicht richtig erklären… Gestern war sein Handy aus.“
„Belle“, sagte meine Mutter, „weil sein Handy aus war, glaubst du, dass er dich betrügt?“
„Ja“, sagte ich.
„Ich mache mein Handy abends auch aus. Vielleicht war er müde. Du sagst selbst, er arbeitet zu viel.“
„Ja“, sagte ich.
„Hat er sich denn heute gemeldet?“, fragte meine Mutter.
„Eben. Vor 5 Minuten“, sagte ich „Er hat gesagt, dass er mich vermisst.“
„Na siehst du“, sagte meine Mutter, „Ich glaube, nach dem Schock bist du etwas verunsichert. Das ist doch normal. Dein Vertrauen ist angeknackst. Das wird bestimmt noch ein bisschen dauern. Wie läuft denn die Therapie?“
„Gut“, sagte ich, „Wir gehen jede Woche.“
Meine Mutter sagte, wir seien auf dem richtigen Weg. Dass man dem ganzen Zeit geben müsse. Dass das ungute Gefühl wahrscheinlich noch ein wenig bleiben, aber nach und nach schwächer werden würde. Dass wir es schaffen würden. Ben gab sich doch so viel Mühe.
Als wir auflegten, fühlte ich mich ein bisschen besser. Ich versuchte, mit den Worten meiner Mutter das ungute Gefühl zu überlagern. Gefühle folgen Gedanken.
Ich ging über den Strand zurück zu den anderen. Der Sand war heiß unter meinen nackten Füßen. Lucy trug an jedem Finger einen Ring. Die Diamanten ihres Verlobungsrings funkelten im Sonnenlicht. Ich trank meinen Mimosa in einem Schluck aus, stellte das Glas klirrend auf dem Tisch ab.
Plötzlich wusste ich, dass das, was Ben und mir passiert war, uns nur enger zusammenschweißen würde. Wir würden das durchstehen. Er hatte gesagt, ich sei die Liebe seines Lebens.