Schon seit ich „Man in Finance“ geschrieben habe (den Beginn der Reihe findet ihr hier), bewegt mich die Beziehung zwischen Künstler*in und Werk – in meinem Fall zwischen Schreibender und Text. Nicht nur, weil viele Lesende in meinem direkten Umfeld sich regelmäßig - mal mehr mal weniger zu Recht - in Figuren aus meinen Texten wiedererkennen, sondern auch, weil ich irgendwann spürte, dass sich die Figuren dadurch in gewisser Weise verselbstständigten. Mit der Veröffentlichung begannen die Figuren, sich meiner Kontrolle zu entziehen. Ich fühlte mich mehr wie eine Mutter, die ihr Kind zwar gebärt, aber keinen Einfluss darauf hat, ob es schwarze oder rote Haare hat, ein rundes oder eckiges Gesicht, ob es Tomaten mag oder nicht. Die Gene bekommt das Baby von der Mutter mit, wie einen Rahmen, den man als Autor*in setzt, aber welche Eigenschaften deutlich nach außen hervortreten, sich zeigen, letztlich in der Welt reflektiert werden, sind dem Einfluss des*der Autor*in entzogen. Dieser Eindruck wurde verstärkt, als mich Lesende auf Figuren ansprachen, mir schilderten, was diese in ihnen ausgelöst hatten, welche Gefühle sie hervorriefen, die ich so gar nicht in ihnen angelegt und deren Wirkung ich nicht antizipiert hatte.
Zu dem Thema fand ich eine Folge des Podcasts Fantasiemuskel, präsentiert von Monopol und Vorstellungskraft X, in dem der Autor Christoph Peters unter anderem von genau dieser Erfahrung berichtet (die Folge „Scheitern als Triumph“ findet ihr unter folgendem Link). Er schildert dort die sich mir so langsam eröffnende Herausforderung, die mit dem Hören der Folge von einer Ahnung zur Gewissheit wurde, dass Figuren ab einem bestimmten Punkt über eine große Autonomie verfügen, die der*die Autor*in selbst nicht mehr bestimmt. Die Figur wird, so beschreibt es Peters, zu einem realen Gegenüber, zu dem er in einen Dialog trete. Besonders interessant wird dies aus seiner Sicht, wenn er über eine Figur schreibe, die er selbst als „unmoralisch“ oder sogar „böse“ empfindet, denn trotz der großen Autonomie, die Figuren zukomme, sagt Peters auch, dass jede Figur ein gewisses Echo in ihm habe, und er andernfalls nicht über die Figur authentisch schreiben könne. Er beschreibt diesen Vorgang als ein Geheimnis, und wie dies funktioniere, könne er nicht erklären. Das kann ich zutiefst nachvollziehen. Gleichzeitig bedeutet Echo aber auch nicht, dass der*die Autor*in die Figur ist. Ich möchte mich an dieser Stelle nochmal ausdrücklich von der Figur Belle aus Man in Finance distanzieren, die aus meiner Sicht ehrlich gesagt eine ziemlich schreckliche Person ist, auch wenn ich gleichzeitig ihren Schmerz und die Motivation für ihr Handeln im Grunde nachvollziehen kann. Meine Texte sind kein Tagebuch.
Die eben geschilderte Verselbständigung des Werkes führt dazu, dass es flexibel bleibt, sich an Lesende anpasst, individuelles Interesse hervorruft und Anklang findet, ohne dass ich als Autorin viel dazu tun muss, außer, die Figuren in die Welt zu bringen. Gleichzeitig, und das ist der schlimmste Fall – vor dessen Eintritt ich permanent Angst habe – kann dem*der Künstler*in das Werk aus den Händen gleiten, wenn es in einer Form verstanden und interpretiert wird, die im Schaffungsprozess subjektiv nicht beabsichtigt war. Mit der Geburt, dem Veröffentlichen eines Textes, muss man als Autor*in das Werk zu einem gewissen Grad loslassen, darauf vertrauen und zitternd hoffen, dass der Text sich allein in der Welt „schon machen wird“ und nicht irgendwann vom Ordnungsamt, schluchzenden Freundinnen oder einer Unterlassungsklage begleitet, mit hängendem Kopf und zerknirschtem Blick wieder vor der Tür steht.
Von dieser Erfahrung inspiriert - und mit der Angst vor Kontrollverlust im Hinterkopf - habe ich den folgenden Text geschrieben. Er ist angelehnt an eine der Metamorphosen von Ovid, die vor Jahrhunderten, 43 vor Christus, geschrieben wurde. Ovids Erzählungen sind zeitlos, sein Werk atmet immer noch, obwohl er selbst schon lange fort ist: Das Werk überdauerte seinen Schöpfer.
Pygmalion und Galatea/Die Befreiung (Annas Version)
Ich schaue diesen Mann an und hasse ihn. Darf man seinen Schöpfer hassen?
Wir liegen nebeneinander im Bett, das Fenster ist geöffnet, der weiße Vorhang bewegt sich im sanften Wind.
Er hat die Augen noch geschlossen, träumt, ganz arglos. Malt sich wahrscheinlich seinen nächsten Streich aus.
Weißt Du denn nicht, dass ich dein letzter Streich war? Fast habe ich Mitleid mit ihm. Möchte die Hand heben, ihm über die Wange streichen. Wie einem Kind.
Diese Selbstgefälligkeit. Diese Arroganz. Diese Dummheit.
Zu Beginn war das alles ein leichtes Spiel für ihn. Unschuldig hat er das Elfenbein besorgt, es in sein Atelier gestellt, in die Mitte des Raumes. Dort, wo das Licht von allen Seiten auf die weißlich-gelbliche Oberfläche fiel. Spürte die Glätte unter seiner Hand, gewonnen aus den Stoßzähnen von riesigen Fabelwesen aus einer fremden, fernen Welt. Genommen von Lebewesen, die er nur aus Geschichten kannte. Auf Zeichnungen gesehen hatte. Von soweit her wurde das Elfenbein verschifft, hierher, in meine Geburtsstadt Phrygien, sodass er sich über die Qualen der Tiere keine Gedanken machen musste. Das Material so einfach für seine Zwecke verwenden konnte. Zu etwas machen konnte, verwandeln in etwas, das ihm nützen würde.
Also machte er den Schmerz einer Spezies zu seinem Werk. Er hob den Meißel. Schlug zu, unablässig. Wie im Fiebertraum drosch er mit dem Eisen auf die Oberfläche des Elfenbeins, das so bereitwillig unter der Gewalt, unter seinen Schlägen nachgab. Für größere Stücke hob er den Hammer aus Bronze, Schweißperlen rannen über seine Stirn, hinein in die Tunika aus Leinen, die bald nass an seinem Oberkörper klebte. Er nennt es seine Arbeit, sein Werk, heute nennen sie es eine Enteignung.
Es war meine Geburt.
Ich nahm schon meinen ersten Atemzug, als er noch an den Feinheiten feilte. Als er noch meine Fingernägel in das Elfenbein formte. Ich öffnete meine Augen, blinzelte auf ihn herab, wie er dort vor mir kniete, konzentriert, den Meißel in der Hand. Schnell schloss ich die Augen wieder. Noch würde ich mich ihm nicht zeigen.
Und er war begeistert von seinem Kunstwerk. Als er nach einer langen, langen Nacht, in der ich die ganze Zeit stillhalten musste, um mich nicht zu verraten, endlich fertig war, die aufgehende Sonne schon den nächsten Tag versprach, strich er sich das Haar aus der Stirn. Noch mit dem Meißel in der Hand lief er um mich herum, betrachtete mich. Fasste mich an. War so verwundert über seine Schöpfung, über sein Werk, dass ihm der Atem stockte.
Er schlief im Atelier, zu meinen Füßen. Einen halben Tag. Er träumte unruhig, wachte immer wieder auf, fasste an meine Füße, als wolle er sich versichern, dass ich nicht wegging. Als er sich von der Anstrengung erholt hatte, stand er auf.
Es war der Tag der Veneralia. Der Feiertag zu Ehren von Venus, der Göttin der Liebe, Schönheit und Fruchtbarkeit. Der Tag gehörte den Frauen, er gehörte mir, aber Pygmalion riss ihn an sich. Er beeindruckte die Göttin mit seinem Flehen, mit seinem Bitten, mit den Kränzen aus Blumen, die er um meinen Hals legte. Die Kerzen, die er in einem Kreis um mich herum aufstellte, brannten so heiß. Er warf sich vor mir auf den Boden, verbeugte sich vor der Göttin, verbeugte sich vor mir.
Und ich gierte danach, mich zu bewegen, diese steinerne Haltung zu verlassen, herabzusteigen.
Venus flüsterte mir ins Ohr. Geh. Es ist sein Glück und es ist sein Können. Küsse ihn.
Und er erschrak, als ich tatsächlich von meinem steinernen Podest zu ihm herabstieg, so leicht, als hätte man mich das Laufen gelehrt. Stand vor ihm, der noch auf dem kalten Boden kniete. Ich reichte ihm die Hand.
Mit aufgerissenen Augen stand er auf. Fassungslos starrte er mich an. Ich musste laut lachen. Warf den Kopf in den Nacken. Wie erschrocken Menschen sind, wenn ihre Träume wahr werden. Welche Angst es ihnen macht.
Wir küssten uns.
Er drückte sich an mich, gierig. Er wollte mich besitzen. Ich wusste, dass er glaubte, dass es ihm zustand. Als mein Schöpfer könne er alles von mir haben, mich ausbeuten, mich verunreinigen. Ich ließ es für einen kurzen Moment zu. Es war so schnell vorbei.
Jetzt lebe ich mit ihm, hier, in dieser kleinen, heißen Stadt, und ich hasse es. Ich will fort. Seine Nachbarn sind erstaunt über diese schöne Frau, die Pygmalion auf einmal hat. Galatea nennen sie mich. Er ist verwundert, wenn andere Menschen meinen Namen rufen. Er ist eifersüchtig, dass auch andere mich sehen, meine Schönheit bewundern können. Mich zum Gegenstand ihrer Träume machen können.
Er will mir Ketten anlegen. Er fängt schon an, ein Gefängnis zu bauen. Mich vor den anderen zu verstecken. Mich zu verleugnen. Ich soll nur ihm dienen.
Aber sieht er denn nicht, dass er schon vor so langer Zeit die Fäden aus der Hand gegeben hat? Dass mein Mund sich von selbst bewegt? Dass die Kunst ihren eigenen Weg geht, ganz ohne ihren Schöpfer? Ich gehöre dir nicht mehr, Pygmalion.
Er versteht nicht, dass er mich mit jedem Schlag seines Hammers stärker gemacht hat. Wie seine Energie mich geformt hat, mir einen Körper gegeben hat, mich erschaffen hat. Mich zum Leben erweckt hat.
Und jetzt muss ich ihm das Seine nehmen.
Ich hebe den bronzenen Hammer, mit dem er mich in das Elfenbein hineingeschlagen hat, und lasse ihn herabsausen auf seinen Kopf, der so sanft auf dem weichen Bett ruht. Das Knirschen seines Schädels verrät mir, dass es vorbei ist. Dass ich frei bin.
Wusstest Du nicht, Pygmalion, dass die Kunst ihren Schöpfer immer überdauert?